Electronic Mall: Banking und Shopping in globalen Netzen

2 Elektronische Märkte

Elektronische Märkte sind zunächst Märkte. Märkte sind Institutionen oder Mechanismen, die der Allokation der Ressourcen dienen, welche von nachfragenden Instanzen benötigt werden. Sie haben diese Funktion mit Hierarchien gemeinsam. Während die Allokation in Hierarchien - Firmen und Planwirtschaften funktionieren weitgehend als Hierarchien - über Pläne erfolgt, ist das Kennzeichen des Marktes der freie Tausch: Die tauschenden Instanzen sind an keine äusseren Pläne oder dergleichen gebunden; sie wählen und entscheiden frei, messen die Gebote allein an ihren Bedürfnissen. Dieses freie Spiel des Tausches ist in realen Märkten gewissen Spielregeln unterworfen. Zudem gibt es mehr oder weniger effiziente Preisbildungsmechanismen wie Auktionen, Börsen usw. Auf diese Weise kann der Preis zum Informationsträger werden und die kollektive Bedürfnissituation spiegeln, wie dies die mikroökonomische Theorie lehrt [Walras]. Marktplätze im traditionellen Sinne sind solche Mechanismen. Heutige Marktplätze sind wesentlich komplexer, räumlich verteilt, durch Infrastrukturen wie Post und Telekommunikation unterstützt.

Die neoklassische Theorie zeigt, dass Marktmechanismen unter gewissen Voraussetzungen zu einer optimalen Allokation der Ressourcen führen. Die klassische Markttheorie nimmt allerdings an, dass alle Informationen allen Marktteilnehmern zugänglich und die Transaktionskosten vernachlässigbar sind. Beide Annahmen sind in realen Märkten nicht erfüllt, wenn auch Elektronische Märkte wesentlich zu diesen Desideraten beitragen [Krähenmann 91].

Was macht nun einen Markt oder Marktmechanismus, d.h. eine Institution, die als Marktplatz (im abstrakten Sinne) funktioniert, zu einem Elektronischen Markt? Es ist ein sehr spezifischer Einsatz der Informationstechnologie, welcher zu einer buchstäblichen Aufhebung des Raumes führt. Die Verschmelzung von Computer und Telekommunikation verbindet nämlich zwei wesentliche Elemente unserer informationstechnologischer Infrastrukturen:

Die Computertechnik hat uns den interaktiven Informationsträger gebracht. Bisher war nur der Mensch fähig, Informationen aktiv anzuwenden und interaktiv zu kommunizieren und zu reproduzieren [Stefik 88]. Die uns bis zur Erfindung des Computers zur Verfügung stehenden technisch hergestellten Informationsträger, namentlich das Papier, sind tot. Sie tragen zwar Information, diese ist aber völlig passiv, sie muss durch den Empfänger bzw. Leser erst wieder „zum Leben erweckt", zu aktiver Information gemacht werden. Informationsobjekte, die auf dem Computer realisiert sind - z.B. Zahlen in der Tabelle eines Spreadsheet-Programms, ein Textobjekt im Textverarbeitungsprogramm - sind (inter-)aktiv: Sie können auf Befehle reagieren bzw. „von sich aus" agieren. Das Konzept des Objektes im Sinne der objektorientierten Programmierung ist die bisher wohl treffendste Modellierung dieses Sachverhaltes.

Die Telekommunikation erlaubt die praktisch gleichzeitige ubiquitäre Präsenz von Information, wie das von Radio und Fernsehen im Broadcast-Verfahren und Telex/Fax und Telefon im Punkt-zu-Punkt Bereich uns inzwischen vertraut ist.

Die Verschmelzung von Computer und Telekommunikation zur Telematik wird ermöglicht durch die Digitalisierung der letzteren sowie durch Standardisierung der Informationsobjekte im Rahmen von Kommunikationsmodellen wie ISO/OSI. Gegenwärtig in Arbeit befindliche weitergehende Architekturmodelle, welche auch komplette Informationsobjekte systemunabhängig (d.h. unabhängig von Hard- und Software) via Telekommunikationsnetze von überall her verfügbar machen (wie ODP [Linington 92] oder CORBA [Maffeis 93]) liefern uns ortslose interaktive Informationsobjekte im Sinne von virtuellen Maschinen oder Servern. Der elektronische Briefkasten (Electronic Mailbox, Electronic Mail) ist ein solches ortsloses interaktives Informationsobjekt, das wir bereits verwenden: Seine Dienste stehen uns überall zur Verfügung, wo wir über einen PC mit Netzanschluss verfügen - am Arbeitsplatz, zu Hause, im Hotel, am Ferienort, selbst unterwegs via Mobiltelefon.

Die gegenwärtige Verschmelzung der Telematik mit der digitalisierten Bild- und Tondarstellung zur multimedialen Telematik wird uns diese ortslosen Informationsobjekte in hocheffizienter Form präsentieren, mit immer besseren Schnittstellen - bis hin zu künftigen Versionen des HMD (head mounted display), welcher ein buchstäbliches „Betreten" der Objekte gestattet, insbesondere der ortslosen, virtuellen Räume.

Elektronische Märkte sind nun mit Hilfe dieser reifen Form der Telematik realisierte Marktmechanismen. In ihnen sind die Angebote und Nachfragen als ortslose Informationsobjekte für eine räumlich verteilte Käufer- und Verkäuferschaft simultan verfügbar. Die Electronic Mall kann als ortsloses, virtuelles Kaufhaus und Dienstleistungszentrum angesehen werden, in dem diese Angebote und Nachfragen präsent sind und sich treffen können.

Mit dem Bau von virtuellen Marktplätzen im globalen Telematikmedium, nach dem Muster herkömmlicher Marktplätze oder -mechanismen, ist jedoch das Potential der Elektronischen Märkte noch keineswegs adäquat genutzt. Elektronische Märkte erlauben nämlich die Anbindung von Dienstleistungen an die primär intendierte Transaktion in einer Weise, die völlig neue Möglichkeiten aber auch für Versicherungs- und Logistikdienstleistungen. In Elektronischen Märkten lassen sich völlig neue Leistungsbündel bilden, d.h. neue, für spezifische Kundengruppen massgeschneiderte Produkte, die deren Probleme umfassender und ganzheitlich lösen.

Damit bieten sich für Dienstleister neue Chancen, nicht nur durch die Eröffnung von Verkaufsstellen in den neuen elektronischen Marktplätzen, sondern auch durch die Anreicherung ihrer Produkte mit weiteren Komponenten, ev. solchen anderer Dienstleister - oder durch die Einbindung ihrer Dienstleistungen in die Produkte Dritter. (Siehe Bild I - 1).


Bild I - 1: Elektronische Märkte

Wie immer bei solchen Umbrüchen gilt es, die neuen Strukturen zu verstehen, um nicht die herkömmlichen, auf die bisherigen Strukturen ausgerichteten Abläufe unreflektiert ins neue Medium abzubilden und um nicht zu spät zu sein. Elektronische Märkte sind globale Marktplätze, in denen von vornherein ein globaler Wettbewerb herrscht. Eine regionale Sichtweise ist daher fast immer unangebracht. Für die zu spät Gekommenen bleibt nur der teure Verdrängungswettbewerb. Das adäquate Verständnis der neuen Strukturen ist jedoch nicht einfach. Gilt es doch oft, die alten Abgrenzungen zu Konkurrenten und Branchenfremden zu überspringen und gemeinsame Lösungen zu suchen, und dies fast immer in einer globalen Perspektive.

Elektronische Märkte sind nämlich als Infrastrukturen zu verstehen, deren gemeinsame Nutzung sie gegenüber Alternativen stark macht und machen muss, sollen sie im globalen Wettbewerb siegreich sein, um so den in ihnen präsenten Anbietern fruchtbare Absatzmärkte zu öffnen bzw. zu erhalten.

Die Electronic Mall, das im vorliegenden Buch wegleitende Konzept, ist eine spezielle Form von Elektronischen Märkten: Die Electronic Mall ist ein Elektronischer Markt für den Einzelhandel.


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Aktualisiert am 16. Februar 1996; Kommentare an emall@obs-us.com.